Vipassana Kurs im Januar 2004 in Myanmar, Burma, Panditarama Forest Meditation Center
Anreise
Von einem Versorgungs-pick-up werde ich die 40 Meilen von Rangun bis zum Forest Center des Klosters transportiert. Dafür brauchen wir fast vier Stunden. Es ist wie eine Reise in eine längst versunkene Zeit. Es gibt also tatsächlich noch ärmere Länder als Indien. Das ist allerdings nur relativ richtig, denn Leute, die auf der Straße leben, sehe ich hier nicht. Viele Häuser oder ganze Siedlungen sind auf Holzpfählen gebaut, zum Teil mitten im Wasser, verfügen nur über einfache Bambuswände. Die Straßen sind leer, werden nur von uralten Lastwagen benutzt. Mitunter kommt ein Kleinlaster voller Menschen vorbei, alles wirkt noch weit entfernt von westlicher Dynamik und Organisation oder indischer Geschäftigkeit, als hätte man das Buch der Geschichte an einer ganz anderen Stelle aufgeschlagen. Das Meditationszentrum mitten in einer trockenen grünen Landschaft, verstreute Holzhütten, aber ein sehr modernes Empfangsgebäude mit viel Marmor, hier ist die Zeit nicht stehen geblieben, hier haben sich Kräfte konzentriert und verdichtet, so dass auch materiell hier eine stabile Grundlage für Praktizierende aus aller Welt geschaffen wurde. Ich erhalte für meinen Aufenthalt die Unterweisung eines Mönchs, die zwei Stunden in Anspruch nimmt. Ich erfahre von den grundlegenden vier Meditationsarten und den vier Betrachtungsweisen während einer Meditation: Körperwahrnehmung, Gefühls- und Sinneswahrnehmungen, das Heben und Senken der Bauchdecke, Beobachten und Benennen der Sensationen in Körper und Geist, das Benennen der Wahrnehmungen und das Beobachten aller Veränderungen. Ich werde angeleitet, jede Handlung bewusst auszuführen und sich jeder Empfindung klar zu sein,z.B. heiß, kalt, weich, hart und so weiter.
5. Tag
5Uhr morgens: noch liegt der Nachttau feucht auf den Latten der Holzbrücke. Über mir das Leuchten der Sterne, ich kann das Holz dieser Brücke riechen, ich gehe in der duftenden Aura dieser Holzbrücke, die mich trägt, über einen dieser subtropischen sumpfigen Seen, Brutstätte für schönste Blüten und Malariafliegen. Über wie viele Jahre verströmt dieses Holz seinen Duft in kosmische Weiten, bevor es Teil dieses Sumpfes geworden ist und sein Geruch, vermischt mit hunderten anderen Düften, nicht mehr als Holzduft zu identifizieren ist (und wie verströme ich mich in meiner Zeit und über diese Zeit hinaus?) Gegenwärtig aber trägt diese Brücke mich, nimmt mich auf und gibt Richtung, mir und den vor mir Gehenden, zum größten Teil in rote Gewänder gehüllte Gestalten, die wir uns in Reihe und gemessenen Schrittes von der Samadhi halle zum Essenspavillon bewegen. Es ist jetzt 5:15 Uhr morgens. Was mache ich hier in dieser Reihe von Männern, vielfach Mönchen, zu nachtschlafender Zeit mitten unter dem Sternenhimmel, mitten in Asien? Und schreitend über einen sumpfigen Tümpel, der in einer Stunde zu brütendem Leben erwacht? Was mache ich hier? Kann ich der Sinnlosigkeit dieses Lebens, dem Chaos, dem ewigen Werden und Vergehen, dem auch diese Brücke, diese Mönche und ich selbst unterworfen sind, etwas entgegensetzen? Gibt es eine Ordnung, einen Weg mit erkennbarem Ausgangspunkt und beschreibbarem Zielort, wie diese Brücke eine erste und eine letzte Sprosse hat? Oder ist alles nur Teil eines ewigen Kreislaufs mit einer unendlichen Anzahl von Staubkörnern, die sich immer wieder für Momente auf neue Art zusammensetzen und wieder auflösen, also im Grunde zufällig und bedeutungslos? Fürs erste genieße ich diese Ordnung, diese duftende Aura der Holzbrücke, das langsam achtsame Gehen zu dieser ungewöhnlichen Stunde vor Sonnenaufgang wie im geheimen Bunde mit diesen ernsten und würdevollen Männern. Diese Ordnung hat etwas Beruhigendes, das Schweigen ist stärker als jede gesprochene Übereinkunft. Die Ordnung des Gehens, das Ritual der Mahlzeiten, das stille Sitzen in der Halle, der gesamte strukturierte Tagesablauf bringen eine Ordnung auch in den Geist, die nicht selbstverständlich ist. Normalerweise ist der Geist wie ein kleines Kind und rennt in alle Richtungen, gute wie weniger gute, teilweise auch gefahrvolle. Soll der Geist als Quelle des Glücks dienen, muss er genauso wie der Körper erst erforschen, was für ihn gut ist und was schädlich. Z.B. braucht er neben Phasen hoher Anstrengung auch Ruhepausen, Trainingsphasen und Selbstbeobachtung. Dieses Retreat ist für den Geist, was für den Körper eine Fastenkur wäre, Nahrungsentzug in einem erprobten Verfahren. Die täglichen Vorträge sind für mich ganz besonders eine Art Fastenkost und nährstoffarm, da ich kaum etwas von der englischen Übersetzung der Vorträge verstehe. Ich habe meinem Geist diese zehntägige Fastenkur verordnet, der Rahmen ist ein 2-monatiges Vipassana Retreat. Genau wie beim Entzug physischer Nahrung der Körper eine Reinigung, Gesundung und Stärkung erfahren kann, nutze ich das Retreat als eine Reinigung, Gesundung und Erneuerung des Geistes. Allerdings hat die Arbeit mit dem Geist seine besonderen Schwierigkeiten. Anders als der Körper mit seinem Bedürfnis nach physischer Nahrung schafft sich der Geist seine Nahrung auch selbst und kann Mahlzeiten, die er vor Jahren zu sich genommen hat, immer wieder verdauen und durcharbeiten. Ich kann also nicht einfach den Geist zur Ruhe bringen, indem ich ihm keine Nahrung mehr vorsetze. Er flüchtet dann einfach in frühere Geschichten oder denkt sich alles mögliche Neue aus. Um hier eine Änderung herbeizuführen, benutze ich eine erprobte Fastenmethode, die den Geist auf trickreiche Art überlistet. Der Geist, der wie ein junger Hund gewohnt ist, überall herumzuschnüffeln, wird an die kurze Leine gelegt, so dass er nur noch das beschnuppern kann, was in unmittelbarer Nähe ist. Das ist hier die Konzentration auf den Atemfluss. Der Atem ist nur im gegenwärtigen Moment wahrnehmbar wie auch das damit verbundene aktuelle Empfinden. Jede Bewegung, jeder Schritt wird bewusst mit präsentem Geist ausgeführt. Ist keine bewusste Empfindung zu registrieren, geht der Geist zur Beobachtung des Atems zurück, so entsteht kein undefinierter Raum, in dem der Geist sich seine alte Ungebundenheit und Tendenz zum Umherschweifen zurückerobert. Welches Ergebnis hat dieses Training? Der durch eine solche Fastenkur kultivierte Geist lässt sich nicht mehr so leicht von der Wahrnehmung unserer körperlich seelischen Befindlichkeit trennen. Der kultivierte Geist lässt sich nicht auf alle möglichen Abenteuer und Abwege locken und erkennt die Qualitätsmerkmale geistiger Nahrung. Der kultivierte Geist erkennt das Gefangensein in Wiederholungsabläufen und weiß den Ausweg dafür: Innerhalten, den gegenwärtigen Moment hervortreten lassen.
Ich bin beeindruckt von dem äußeren Rahmen hier, der Ruhe in der Natur, dem geregelten Tagesablauf, dem Schweigegebot, dem gefahrlosen Gehen im Klostergelände, der Ästhetik der Gärten, der schlichten Ordnung, dem Geist von Würde und Achtsamkeit. Allein schon das Essen im Schweigen ist für mich eine Freude besondere Art, der ich an das hektische Essen in lauten Schulkantinen und ständige Unterbrechung durch Absprachen unter Kollegen gewöhnt bin. Auch von einer Ästhetik des Schlichten, der Ordnung und des pfleglichen Umgangs mit Mensch und der Natur kann in meinem Schulalltag keine Rede sein. Natürlich muss in einer modernen Gesellschaft auch Raum für das Laute, das Krasse und Kontroverse, für Leistung und Dynamik vorhanden sein, für Formen überschäumender Lebensfreude. Aber wir könnten dieses in Asien aus alter Überlieferung noch lebendige Element des Trainings von Stille und Sammlung gut gebrauchen. Es könnte der Tendenz entgegenwirken, allen Lebenssinn aus gnadenlosem Konsumismus und dem Äußerlichkeitswahn gewinnen zu wollen.